05.12.2023 | Tagesspiegel: Herr Saleh, Sie sind mit 5 Jahren aus dem Westjordanland nach Deutschland gekommen...
Raed Saleh: ...ja, aus Palästina.
Was bedeutet Ihnen ihre Geburtsregion?
Ich habe Familie und Freunde dort. Die große Mehrheit wünscht sich nichts mehr als Frieden und ich merke, wie groß ihr Schmerz gerade ist. Bei den Menschen in Israel und bei den Menschen in Palästina.
Haben Sie selbst Angehörige oder Freunde verloren?
Zu viele Menschen haben in dem jahrzehntelangen Konflikt Angehörige verloren.
Bekommt die Trauer in Deutschland gleich viel Raum?
Wichtig ist mir das Mitgefühl mit allen Menschen, die jetzt Leid erfahren. Jedes Leben ist gleich viel wert.
Sie haben sich einmal als „deutscher Sozialdemokrat arabischer Herkunft und muslimischen Glaubens” beschrieben. Passen diese Identitäten in diesen Tagen gut zusammen?
Natürlich passt das. Das spiegelt übrigens das Deutschland von heute in seiner Vielfalt wider. Menschen christlichen, jüdischen und muslimischen Glaubens genauso wie Menschen ohne Glauben haben hier ihr Zuhause. Vielfalt hat Deutschland stärker gemacht. Darauf sollten wir stolz sein.
Was hat der 7. Oktober und alles, was danach kam, in Deutschland verändert?
Viele Menschen jüdischen Glaubens fühlen sich in Deutschland nicht mehr sicher. Jüdische Freunde von mir sagen mir, dass sie nicht mehr hebräisch auf der Straße sprechen. Zeitgleich haben viele Menschen, die muslimisch sind oder muslimisch gelesen werden, das Gefühl, sie werden unter Generalverdacht gestellt. Sie haben das Gefühl, jeden Tag kommt die Politik mit einer neuen Forderung, die sich pauschal gegen Muslime oder Menschen aus dem arabischen Raum richtet. Wir dürfen in Deutschland weder Antisemitismus noch Islamfeindlichkeit dulden.
Wie hat die Ehrenbürgerin unserer Stadt, Margot Friedländer, einmal gesagt? Es gibt kein christliches Blut. Es gibt kein muslimisches Blut. Es gibt kein jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Wir müssen uns beim Kampf gegen Diskriminierung deshalb breit aufstellen. Gegen Antisemitismus, gegen Muslimfeindlichkeit und Rassismus. Wir dürfen uns jetzt nicht auseinanderdividieren lassen.
Wer tut das aus Ihrer Sicht?
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat sich neben Wolfgang Kubicki, immerhin stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP, für eine Quote für Menschen mit Migrationshintergrund von maximal 25 Prozent für Wohnviertel ausgesprochen. Sehen Sie, so schnell geht das: Gerade haben wir noch über arabischstämmige Menschen gesprochen, jetzt geht es schon gegen alle Migranten. Es gibt leider Politiker, die gerade nichts anderes versuchen, als mit Populismus medial vorzukommen. Das ist unverantwortlich. Wir müssen jetzt Ängste nehmen und nicht neue schüren. Ich appelliere an alle in der Politik, in dieser Phase Vorbild zu sein.
Was heißt das für Sie?
Antisemitismus hat bei uns keinen Platz. Wir sagen nicht nur "Nie wieder", sondern in Berlin buchstabieren wir konkret aus, was das bedeutet. Wir müssen klare Grenzen setzen und solche Positionen hart sanktionieren. Gleichzeitig müssen wir viel stärker auf Prävention setzen.
Sie selbst wurden als muslimischer Berliner Politiker schon vor Jahren auf der antisemitischen Homepage "Judaswatch" in der Kategorie „sehr einflussreich“ geführt und zur Zielscheibe erklärt. Wie kam das?
Das ist eine rechtsradikale Plattform. Ich setze mich seit vielen Jahren für den Wiederaufbau der Synagoge am Fraenkelufer zwischen Neukölln und Kreuzberg ein. Das ist eine junge Gemeinde, die dort ein interkulturelles Zentrum errichten will, für Menschen jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubens. Ich bin dort Vorsitzender im Kuratorium und unterstütze den Bau, seit Anfang an, wo ich kann. Das gefällt Rechtsradikalen offenbar ganz und gar nicht.
In ihrer Partei wurde kritisiert, Sie sollten sich als in Palästina geborener Politiker stärker zum Konflikt äußern. Was tun Sie selbst, um das "Nie wieder" auszubuchstabieren?
Diese Kritik kenne ich nicht. Gemeinsam mit meiner Partei kämpfen wir schon immer für ein Deutschland der Toleranz und des Miteinanders. Gemeinsam mit meiner Partei habe ich vor Kurzem das Forum der „Brückenbauer:innen“ ins Leben gerufen, in einem breiten Bündnis mit Rabbinern, Imamen, Kirchenvertretern, Organisationen der Zivilgesellschaft und Präventionsarbeit. In Berlin haben wir die Mittel für die Prävention massiv erhöht, planen ein Landesdemokratiefördergesetz und werden die Präventionsprojekte dauerhaft sichern.
Die Experten aus dem Präventionsbereich sagen mir zurecht, sie sind es, die das „Nie wieder“ in unserem Berlin in konkrete Arbeit jeden Tag übersetzen müssen. Sprüche wie "Die Prävention ist gescheitert" oder "Die Integration ist gescheitert" helfen dagegen nicht. Sie sind auch schlicht falsch. Integration ist in Deutschland millionenfach gelungen.
Wer dagegen behauptet, die Integration sei insgesamt gescheitert, beweist nur, dass er keine Ahnung vom Leben der Menschen hat. Meist spielen dann eigene Vorurteile eine Rolle. Manche in diesem Land haben jetzt offenbar das Gefühl, sie können sie jetzt wieder laut und ungestört artikulieren.
Steht die Präventionsarbeit angesichts der Hass-Parolen auf den Straßen nicht tatsächlich vor einem Scherbenhaufen?
Nein, ganz im Gegenteil, wir brauchen jetzt mehr Prävention denn je. Wir müssen die starken Strukturen ausbauen, die wir in Berlin haben. Berlin ist durch die vielen Projekte resilienter als andere europäische Metropolen.
Deshalb geht es jetzt einerseits darum, die erfolgreichen Projekte in ihren Strukturen zu stärken – und wir müssen über den Tag hinausdenken. Genau dafür setzen wir jetzt eine parlamentarische Enquete-Kommission ein. In der Enquete-Kommission „Für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gegen Antisemitismus, Rassismus, Muslimfeindlichkeit und jede Form von Diskriminierung“, an der auch Wissenschaftler und Experten beteiligt sein werden, geht es darum, Missstände und Diskriminierung in Gesellschaft und staatlichen Einrichtungen aufzudecken und Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Das Ziel ist es, Berlin auf Basis der Empfehlungen der Kommission zu einem Vorbild zu machen. Es geht darum, für die nächsten Generationen die Grundlagen für ein respektvolles Miteinander zu schaffen.
Deutschland, so lautet eine weit verbreitete These, hat sich den Antisemitismus durch Einwanderung erst wieder stärker ins Land importiert. Wären wir ohne Einwanderung näher an einem echten "Nie wieder"?
So argumentieren Friedrich Merz, viele Konservative und die AfD, ich weiß. Antisemitismus ist jedoch in Deutschland tief verbreitet und verwurzelt bis hinein in die Mitte der Gesellschaft – und das macht ihn so gefährlich. Das belegen leider auch Studien seit Jahren.
Fühlen Sie sich als Einwanderer in dieses Land beim "importierten" Problem mitgemeint?
Nochmal: Wir Politiker haben eine Vorbildfunktion und müssen aufpassen mit den Begriffen, die wir benutzen. Sprache ist unser Handwerkszeug. Ich würde das anders formulieren: Jede Form des Antisemitismus, ob sie links, rechts, aus der Mitte der Gesellschaft oder aus migrantischen Communities kommt, ist hart zu bekämpfen.
In Berlin gab es gerade in den Tagen nach dem 7. Oktober einen strengen Kurs bei der Untersagung pro-palästinensischer Demonstrationen. Hätten Sie sich mehr Raum für palästinensische Stimmen gewünscht?
Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut. Wir dürfen solche Kundgebungen deshalb nicht ohne Anlass verbieten. Das ist aber auch nicht das, was in Berlin gemacht wurde.
Viele Juden werden die Bilder vom Massaker am 7. Oktober kaum noch aus dem Kopf kriegen. Vielen Palästinensern geht es mit den Bildern der leidenden Zivilbevölkerung in Gaza. Die Stimmung ist aufgeheizt. Wie kriegt man das wieder zusammen?
Mir sagen jüdische Freunde: Raed, wenn wir über Antisemitismus reden, müssen wir auch über Islamfeindlichkeit reden. Das macht mich stolz, weil es die Empathie zeigt, die wir so dringend in der Gesellschaft brauchen. Und ich bin genauso stolz auf diejenigen Muslime, die sich an die Seite ihrer jüdischen Nachbarn stellen.
Wir müssen jetzt allen Menschen sagen: Dieses Land ist Euer Zuhause. Wir lassen uns nicht auseinanderdividieren. Gemeinsam stellen wir uns gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck. Menschen dürfen nicht aufgrund ihrer Religion und Herkunft stigmatisiert werden.
Damit meinen Sie Juden und Muslime?
Juden fragen sich, ob sie noch sicher im Land sind. Das schmerzt. Wir müssen Juden Schutz und Sicherheit in Deutschland garantieren. Gleichzeitig höre ich gerade unter jungen Menschen muslimischen Glaubens immer häufiger die Frage: Warum stellt man uns unter einen Generalverdacht? Warum sind wir plötzlich wieder "die Palästinenser", „die Migranten“ und nicht Deutsche?
Was macht das mit den Menschen aus Ihrer Sicht?
Ich bin kein Sozialwissenschaftler. Aber was ich in den Gesprächen erlebe, ist ein großes Bedürfnis nach Orientierung und Miteinander. Am Ende nützt ein populistischer Ton vor allem den Rechten. Das wird auch Friedrich Merz noch lernen müssen.
Auch aus ihrer eigenen Partei kamen scharfe Forderungen nach Ausweisungen und dem Entzug des deutschen Passes.
Mag sein, habe ich bisher nicht gehört – und ist trotzdem falsch. Forderungen wie pauschale Demonstrationsverbote oder der Entzug des deutschen Passes sind weder rechtlich umsetzbar noch helfen sie irgendjemandem weiter. Wir sind ein Einwanderungsland. Die gemeinsame Basis ist ein Miteinander mit klaren Regeln. Wir müssen klarmachen, was in unserem Land geht und was nicht geht. Wir müssen eine gemeinsame Vision entwickeln für diese Gesellschaft. Die SPD muss dafür Orientierung geben: Politische Führung in schweren Zeiten erfordert deshalb Besonnenheit und Empathie. Ein zynischer Satz auf dem Titel des "Spiegel" ist dabei nicht hilfreich.
Der Bundeskanzler hatte dort gesagt, man müsse jetzt "im großen Stil abschieben". Sie finden das falsch?
Ich hätte mir andere Worte eines Sozialdemokraten auf dem Titel des "Spiegel" gewünscht. Ich hätte mir gewünscht, dass dort steht: Wir brauchen eine Umverteilung von Oben nach Unten in der Gesellschaft.
Aber muss die Asyl-Migration nicht begrenzt werden?
Gar keine Frage, selbstverständlich müssen wir das besser steuern. Aber der Ton macht doch die Musik. Wir müssen doch weiterhin auch herausarbeiten, dass wir auf Zuzug angewiesen sind. Das weiß natürlich auch der Kanzler. Lassen Sie mich aber zur Verteilungsfrage zurückkommen: Wir erleben in Deutschland in den letzten zwei, drei Jahren, dass immer weniger Menschen immer mehr haben und immer mehr Menschen immer weniger. Deshalb nochmal: Es findet gerade in dieser Krisenzeit eine Verteilung von Unten nach Oben statt. Diese Schere zwischen Arm und Reich ist es, was die Gesellschaft zunehmend trennt, und nicht, ob jemand irgendwann einmal in dieses Land eingewandert ist oder in der sechsten Generation hier lebt.
Was ist Ihr Vorschlag dagegen?
Für die hart arbeitenden Menschen steigen die Grundkosten des Lebens immer weiter. Auch diese Menschen sind mittlerweile armutsgefährdet, das geht weit bis tief in die Mittelschicht hinein. Das müssen wir abfedern, gerade im Bereich der Mieten. Warum gibt es noch immer keine Öffnungsklausel, die den Ländern erlaubt die Mieten stärker zu bremsen? Es gibt den Spruch: Was das Gesetz nicht verbietet, verbietet der Anstand. Aber wenn kein Anstand da ist, müssen wir eben an die Gesetze ran. Dafür bin ich in die Politik gegangen. Gleichzeitig machen die großen Konzerne gerade in der Krise Rekordgewinne. Sie verdienen sich dumm und dämlich und der Staat schaut einfach zu. Das ist für mich eine zentrale Gerechtigkeitsfrage. Wir müssen die Konzerngewinne drosseln und Krisen-Profiteure an den Kosten der Krise beteiligen. Vorschläge wie eine echte Übergewinnsteuer lagen ja auf dem Tisch, andere Länder haben sie längst eingeführt. Zu oft werden die Kosten all der Krisen durch die Endverbraucher getragen, während die Konzerne Rekordgewinne einfahren. Das ist nicht gerecht. Das spüren die Menschen.
Was für ein Signal erhoffen Sie sich vom SPD-Bundesparteitag in einer Woche?
Ich erhoffe mir von meiner Partei ein glaubhaftes Signal, dass wir die Verteilungs- und Gerechtigkeitsfrage stellen. Die SPD hat den Menschen jahrzehntelang Orientierung geboten. In meinem Umfeld spüre ich mehr denn je ein Bedürfnis der Menschen nach Orientierung und Klarheit in der krisenhaften Zeit, in der wir uns befinden. Es ist unsere Verantwortung, jetzt für die Menschen da zu sein und ihnen glaubhaft zu vermitteln, dass wir um ihre Sorgen wissen.
Deutschland ist ein starkes Land. An dem Wohlstand müssen alle Menschen wieder gerechter beteiligt werden.
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