Die Corona-Pandemie stellt eine in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie dagewesene Herausforderung dar. Durch das verantwortungsbewusste Handeln von Politik und Bevölkerung konnte verhindert werden, dass es im Frühjahr zu einer Überforderung des Gesundheitssystems gekommen ist, wie das in europäischen Nachbarländern und weltweit zu beobachten war. Dieses Verantwortungsbewusstsein ist auch in der derzeitigen Situation Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Vorgehen gegen die Ausbreitung des Virus. Die stark steigenden Fallzahlen zeigen uns: Es ist ernst. Jede und jeder Einzelne muss sich an die bestehenden Regeln halten, um die unkontrollierte Ausbreitung des Virus möglichst vermeiden, zumindest aber bremsen zu können. Insbesondere ältere Menschen und Menschen mit chronischen Erkrankungen sind in dieser Situation auf ein solidarisches Handeln der gesamten Gesellschaft angewiesen. Aber auch jüngere Menschen haben teilweise mit massiven Spätfolgen einer COVID-19-Erkrankung zu kämpfen, die es zu verhindern gilt.
Damit in den kommenden Monaten die Bereitschaft eigene Beschränkungen in Kauf zu nehmen, bei den Bürgerinnen und Bürgern bestehen bleibt, müssen die Schutzmaßnahmen nachvollziehbar, schlüssig und verhältnismäßig sein. Zweifel an der Geeignetheit einiger Regelungen, wie etwa dem Beherbergungsverbot und die Uneinheitlichkeit der Länderregelungen führten jedoch zu starkem Unmut in der Bevölkerung. In den letzten Wochen haben immer mehr Verwaltungsgerichte einzelne Corona-Maßnahmen gekippt, da diese nicht nachvollziehbar begründet, zu unbestimmt oder unverhältnismäßig gewesen seien. Zudem kam es bundesweit zu voneinander abweichenden Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte, so dass in Deutschland für vergleichbare Sachverhalte unterschiedliche Rechtslagen existieren. Das sorgt nicht nur für einen Akzeptanzverlust in der Bevölkerung, sondern birgt mitunter auch die Gefahr von erheblichen Haftungsansprüchen. Noch vollkommen offen ist die staatspolitische und -prägende Grundsatzfrage zur Balance der Staatsgewalten, da in sämtlichen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz die sogenannte Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichtes nicht oder nicht abschließend ausgeleuchtet wurde.
Der Ruf nach klareren und einheitlicheren Regelungen sowie einer stärkeren Beteiligung der Parlamente wurde zurecht lauter. Die Entscheidungen über wesentliche Grundrechtseingriffe und die großen Linien der Corona-Politik bleiben den Parlamenten vorbehalten, wo Gesetze unter Anhörung von Sachverständigen interdisziplinär beraten, öffentlich gemeinsam mit der Opposition debattiert und am Ende amtlich begründet werden. In einer dynamischen Pandemielage können und sollen die Parlamente natürlich nicht über jede einzelne Corona-Schutzmaßnahme eines Landes abstimmen. Auch hat das föderal aufgebaute Krisenmanagement den Vorteil, dass von den Ländern individuelle Lösungen für das Infektionsgeschehen im jeweiligen Bundesland gefunden werden können. Es bedarf jedoch konkreterer rechtlicher Rahmenbedingungen, welche Schutzmaßnahmen unter welchen Voraussetzungen ergriffen werden können – und wo Grenzen erreicht sind.
Der Bundestag kann und muss diese Leitplanken im Infektionsschutzgesetz differenzierter, als das bisher der Fall ist, vorgeben. Dies ist für eine effektive und nachvollziehbare Pandemiebekämpfung unerlässlich. Dazu muss der Bundestag die Voraussetzungen bestimmter Schutzmaßnahmen präzisieren und bundeseinheitlich im Infektionsschutzgesetz vorgeben. Er muss außerdem mit eigenen Rechtsverordnungen für mehr Einheitlichkeit bei länderübergreifenden Fragestellungen sorgen, Begründungs- und Befristungspflichten ebenso einführen, wie Parlamentsvorbehalte und Berichtspflichten und hierdurch die Entscheidungsfindung transparenter gestalten. Dies führt wieder zu einer klareren Trennung der Gewaltenteilung und sorgt für mehr Rechtsstaatlichkeit und Akzeptanz im Krisenmanagement.
Gerade weil Corona-Schutzmaßnahmen nötig sind, müssen sie stets nachvollziehbar, schlüssig und rechtssicher sein. Folgende Gesetzesänderungen sind notwendig und wir setzen uns für deren zeitnahe Umsetzung ein:
- Die Generalklausel des § 28 IfSG muss präzisiert werden.
Bei den bisherigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie war es erforderlich, teilweise erheblich in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger einzugreifen. Diese Maßnahmen wurden auf eine Generalklausel im Infektionsschutzgesetz gestützt. Es zeichnet sich ab, dass diese Eingriffe kein kurzfristiges Provisorium darstellen, sondern einen Zustand definieren, dessen Ende nicht abzusehen ist. Inzwischen wird bundesweit durch Gerichte und Rechtswissenschaft deutlich auf die dringende Notwendigkeit hingewiesen, jetzt das Corona-Krisenmanagement auf eine konkretere gesetzliche Grundlage zu stellen.
Der Wesentlichkeitsgrundsatz besagt, dass wesentliche Grundrechtseingriffe durch die Parlamente selbst zu regeln sind und nicht den Verordnungsgebern überlassen werden können. Insoweit darf nicht verkannt werden, dass dieser Grundsatz nicht nur die verordnende Exekutive, sondern gerade auch die ermächtigende Legislative beschränkt. Dies gilt mindestens für das ermächtigende Parlament, also derzeit den Deutschen Bundestag, erstreckt sich jedoch auch auf den vollziehenden Bereich, also die Landesparlamente. Damit das Corona-Krisenmanagement diesem verfassungsrechtlichen Anspruch gerecht wird, müssen in Zukunft übliche Standardmaßnahmen der Pandemiebekämpfung, die stark in Grundrechte eingreifen (Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, Versammlungsverbote, Kontakt- und Abstandsverbote, Kontaktdatenerfassung, Untersagungen und Beschränkungen unternehmerischer Tätigkeiten, Vorgaben für Gemeinschaftseinrichtungen, Verpflichtung zum Tragen bestimmter Schutzkleidung, Einschränkungen für den Betrieb in Bildungseinrichtungen) unter Nennung klarer Kriterien für deren Anordnung durch die Länderparlamente oder -Regierungen im Gesetz normiert werden. Damit wird mehr Bundeseinheitlichkeit erreicht und die notwendigen Schutzmaßnahmen werden rechtssicher ausgestaltet. - Regelungen, die landesgrenzüberschreitendes Verhalten betreffen (wie Einreisen und innerdeutsche Reisen), sollten bundeseinheitlich durch den Bund getroffen werden. Mindestens soweit etwaige Rechtsverordnungen wesentlich in Grundrechte eingreifen, sollten sie außerdem einem Zustimmungsvorbehalt des Deutschen Bundestages unterstellt werden. Soweit landesrechtliche Regelungen wesentlich in die Grundrechte der Bürger eingreifen, sollten diese durch Gesetz nach Artikel 80 Absatz 4 GG getroffen werden; mindestens ist für solche Regelungen ein parlamentarischer Zustimmungsvorbehalt zu schaffen. Die sogenannten Subdelegationen zu Verordnungsermächtigungen des § 32 IfSG müssen insbesondere dann durch Landesgesetz oder zumindest durch Rechtsverordnung ausgeübt werden, wenn sie in einzelnen Sektoren in Grundrechte eingreifen, zumal sogenanntes schlichtes Verwaltungshandeln keinerlei parlamentarisches Verfahren auslöst.
- Alle Regelungen sind mit einer ausführlich abwägenden Begründung zu versehen, damit örtliche Behörden, Gerichte und vor allem die Bevölkerung einfach Sinn und Zweck erkennen können. Corona-Schutzmaßnahmen durch Bund und Länder sollten stets befristet werden damit vor deren Verlängerung eine Überprüfung der Notwendigkeit vorgenommen wird. Die Parlamente müssen Vorkehrungen für enge Kontrollen des Verwaltungsvollzuges und für zügige parlamentarische Entscheidungen treffen.